Kälte – Feind oder Freund?
Frieren mögen wohl die wenigsten von uns. Trotzdem gibt es Menschen, die sich freiwillig in eiskalte Badewannen setzen oder sogar in gefrorene Seen springen – und das alles mit einem Lächeln. Aber warum tut sich das jemand freiwillig an? Was bringt es, den Körper so sehr auskühlen zu lassen, dass selbst das Atmen schwerfällt? Tatsächlich gibt es noch keine eindeutigen Studien dazu, aber feststeht: Kälte bringt unseren Kreislauf in Schwung, indem sie die oberflächlichen Gefäße verengt, die sich später, beim Aufwärmen, wieder erweitern. Das wirkt sich nach einigen Wiederholungen positiv auf das Herz-Kreislaufsystem, die Regeneration nach dem Sport und das Immunsystem aus. Diesen Effekt ruft allerdings auch schon eine gewöhnliche „Warm-Kalt-Dusche“ hervor!
Doch Kälte kann noch viel mehr: Werden Zellen in unserem Körper abgekühlt, verlangsamt sich ihr Stoffwechsel. Der Nebeneffekt: Die Zellen benötigen weniger Sauerstoff. Bei Operationen am Herzen, bei denen der Blutkreislauf unterbrochen wird, am Gehirn oder bei Schlaganfällen kann das Abkühlen des Körpers das Risiko gravierender Schäden vor allem im Gehirn und an Organen verringern.
So haben auch Menschen, die in kaltem Wasser (wie einem zugefrorenen See) einbrechen, eine bessere Überlebenschance als Menschen, die im Sommer in warmen Gewässern ertrinken. Insbesondere bei Kindern kommt dort auch noch der Tauchreflex ins Spiel. Er verlangsamt beim Eintauchen ins Wasser die Herzfrequenz und führt zu einer Umverteilung des Blutes zu lebenswichtigen Organen. Bei kaltem Wasser hat er einen stärkeren Effekt als bei warmem. „Nobody is dead until they are warm and dead“ („Niemand ist tot, außer sie sind warm und tot“) ist ein bekannter Leitsatz in der Notfallmedizin.
Ähnlich lässt sich auch erklären, wieso Organe nach einer Entnahme für eine Transplantation oder amputierte Gliedmaßen wie z.B. verlorene Finger gekühlt werden sollen. Durch den verlangsamten Stoffwechsel in den Zellen wird der Sauerstoffbedarf massiv reduziert, was vor einem Sauerstoffmangel schützt und somit die Lebensfähigkeit der Organe und Körperteile über eine längere Zeit erhält.
Eissprays machen sich den „verlangsamenden“ Effekt der Kälte woanders zunutze: Sie dienen als schnell wirksames, lokales Anästhetikum, indem sie die Nervenaktivität und Schmerzsignale verlangsamen. Allerdings ist Vorsicht geboten, denn eine zu häufige Applikation mit zu kleinen Intervallen oder ein zu geringer Abstand beim Aufbringen, kann Erfrierungen verursachen.
Nach Verletzungen kann Kälte das Ausmaß von Schwellung günstig beeinflussen. Auch hier betrifft der positive Effekt die Verlangsamung des Stoffwechsels. Der durch Sauerstoffarmut im verletzten Gewebe entstehende sekundäre Gewebsschaden wird durch Kälte reduziert und so die Entzündungsreaktion, durch die die Heilung eingeleitet wird, in ihrem Ausmaß reduziert. Dies erklärt auch, warum Kälte nur die Entstehung der Schwellung günstig beeinflussen kann, nicht aber eine bereits bestehende Schwellung reduzieren kann.
Pech gehabt
Der positive Effekt von Kälte kann durch weitere Maßnahmen noch erhöht werden. Eine bewährte Vorgehensweise zur Behandlung akuter Verletzungen ist die PECH-Regel: Pause, Eis, Compression, Hochlagern. Durch Kompression wird der Druck im Gewebe erhöht und der Austritt von Flüssigkeit aus den Gefäßporen vermindert. Das Hochlagern des verletzten Bereichs unterstützt den Abfluss von Gewebeflüssigkeit. All das kann ein schnelleres Abklingen der Entzündungsreaktion und Schwellung bewirken.
Die Kombination aus Kühlung und Kompression macht man sich auch nach operativen Eingriffen zu Nutze. Der Körper kann nicht unterscheiden, ob eine Verletzung durch einen Sportunfall entstanden ist oder durch einen chirurgischen Eingriff. Postoperativ ist die Verringerung der Schmerzen einerseits und eine Reduktion der Schwellung und Entzündungsreaktion andererseits, ein absolut wünschenswerter Effekt. Spezielle Kühlmanschetten bieten hier die Möglichkeit einer dauerhaften kontrollierten Kühlung und Kompression für viele Operationsgebiete.
Kühlung wird in vielen weiteren Gebieten der Medizin mit Erfolg eingesetzt. Sogenannte „Eiskappen“ werden etwa zur Prävention von Haarausfall bei Chemotherapien eingesetzt. Durch eine Abkühlung der Kopfhaut wird an den relativ weit oberflächlich liegenden Haarfollikeln die Durchblutung reduziert und der Stoffwechsel verlangsamt. Dadurch gelangt weniger Medikament in die Follikel und sie werden besser vor dem zellschädigenden Mittel geschützt. Erste Studien ergaben bereits vielversprechende Ergebnisse. Allerdings sprachen nicht alle Patienten gleichermaßen auf diese Therapie an und ganz verhindern ließ sich der Haarverlust nicht. Dasselbe Prinzip reduziert das Auftreten von peripheren Nervenschäden an Händen und Füßen bei manchen Chemotherapien durch gezielte Abkühlung von den Extremitäten während der Gabe.
Ein weiteres Anwendungsgebiet der Kälte in der Tumortherapie ist die sogenannte Kryoablation von Krebszellen. Hier werden Tumorzellen gezielt durch spezielle Nadeln mehrfach eingefroren und wieder aufgetaut. Dadurch sterben diese ab und können vom Körper abtransportiert werden. Je nach Lokalisation, Art und Größe des Tumors kann das eine relativ schonende Therapieoption darstellen.
Kälte ist also nicht nur für die Verlängerung der Haltbarkeit von Lebensmitteln nützlich und dazu da, uns die Zehen abzufrieren. Sie wird in der Medizin sehr vielseitig eingesetzt und ist in manchen Situationen sogar lebensrettend. Und das ist doch eine ziemlich „coole“ Sache!
Kälte gut – alles gut
Der professioneller Trampolinspringer Benjamin Wizani verletzte sich einige Tage vor seinem Einsatz bei den olympischen Spielen durch eine unglückliche Landung im Training neben dem Trampolin. Durch eine Vorverletzung am Kniegelenk versuchter er instinktiv dieses zu schützen und die gesamte Kraft mit dem Sprunggelenk abzufangen. Da nicht mal das Laufen leichtfiel, war eine Teilnahme am Wettkampf nicht sehr realistisch. Aber so schnell wollten er und sein Physiotherapeut Jakob Wallentin den Traum nicht aufgeben. So wurde zwei Tage lang für insgesamt elf Stunden eine besondere Art der Kältetherapie durchgeführt – Cryokinetics – das bedeutet die verletzte Extremität so lange zu kühlen, bis eine leichte Bewegung durchgeführt werden kann. Der Sportler ging diese zwei Tage lang mit seinen Beinen immer wieder für jeweils fünf Minuten in ein Eiswasserbad (ca. 8°). Dadurch konnte eine schmerzfreie vollbelastende Mobilisation und schließlich auch Sprungbelastung wieder erreicht werden. Schlussendlich konnte er mit angelegtem Tapeverband schmerzfrei seinen Wettkampf abschließen. Kälte gut – alles gut!