Herdenimmunität
Die soziale Lernkurve der Menschheit
Boris Johnson zögerte lange mit der Setzung von Maßnahmen, um die Verbreitung des Corona Virus einzudämmen. Er folgte der Strategie, dass die Durchseuchung zur Kernimmunität der Briten führen würde, was die nachhaltigere Lösung zur Bekämpfung der Pandemie sei.
Abgesehen davon dass Virologen diesen Plan als medizinisch kühn beurteilten, hätte diese Strategie nach vorsichtigen Schätzungen 250.000 Todesfälle verursacht. Ein hoher Preis, moralisch und ethisch äußerst fragwürdig. Dass dieses Kalkül im Jahr 2020 nicht mehr opportun ist, setzt eine zivilisatorische Marke historischen Ausmaßes.
Geschichtlich betrachtet, wurden vor hundert Jahren Menschen noch wegen anderer Denkweise und Gesinnung vorsätzlich ermordet. In den folgenden Jahrzehnten waren Leid und Tod durch Hungersnöte und Kriege Kalkül. Der Verlust an Menschenleben wurde in Kauf genommen. Diese Akzeptanz ist verloren gegangen. Nunmehr leben wir in einer Gesellschaft, die bereit ist, drastische Einschränkungen hinzunehmen, um die Schwächsten und Verletzlichsten zu retten.
Vom vorsätzlichen Töten, über die Akzeptanz von kalkulierten Todesfällen, hin zur Selbsteinschränkung zum Schutz der Schwächsten in einem Jahrhundert reicht die soziale Lernkurve der Menschheit. Darin sieht der Soziologe, Prof. Harald Welzer, von der Uni Berlin, den größten zivilisatorischen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte.
Das macht Mut, dass wir auch die nächsten schweren Prüfungen, die auf uns zukommen, bewältigen können. Sollte es gelingen, zeitnahe einen Impfstoff zur Verfügung zu haben, benötigen wir jedenfalls acht Milliarden Dosen, bei einer zweistufigen Impfung sechzehn Milliarden. Es ist kaum zu erwarten, dass in einem ersten Schritt diese Mengen an Impfstoff für eine flächendeckende Immunisierung zur Verfügung stehen. Wen impfen wir zuerst? Diese Frage wird die nächste große Herausforderung der Menschheit.