Ich muss tanzen!
Die Geschichte einer Metamorphose
Text: Alex Weinheber
Mein ganzes Leben lang bin ich vor meiner inneren Stimme geflüchtet, hatte immer Entschuldigungen parat. Meine Angst, zu scheitern, hat mich ausgefüllt wie die Leere das Universum.
Irgendwann kam der Tag, an dem sich ein Schalter umlegte. Plötzlich hatte ich keine Angst mehr vor der Stimme, sondern vor dem, was ich im Spiegel sah: Ich hatte 210 kg. Ich wollte es nicht mehr aushalten, mein Gewicht, mein Asthma, meine Neurodermitis, mein Umfeld, mein Leben. Ich hatte mich im Inneren eines Labyrinths verlaufen und musste einsehen, dass ich alleine nicht mehr herausfinde. „Wenn‘s so weiter machen, erleben´S ihren 30er nimma“, waren die Worte des Arztes, der mir zu einem Magenbypass geraten hat. Meine Frage: „Kann ich nicht einfach eine Diät und Sport machen?“ wurde vom selbstgefälligen Gekicher der Ärzte ausgedröhnt. „Unmöglich, sie müssen ihr Gewicht mehr als halbieren und mit ihrem Asthma und ihrem Gesamtzustand können Sie unmöglich Sport machen. Außerdem wäre mir nicht bekannt, dass es jemals jemand geschafft hätte, ohne OP aus der morbiden Adiposität rauszukommen.“ Man konnte kein Belastungs-EKG machen, weil die Geräte nur bis 150 kg zugelassen waren und es gab keine Waage im Spital, die mein Gewicht erfassen hätte können. Auch ein MRT war nicht möglich, da ich nicht hineinpasste.
Da stand ich nun, Weihnachten 2009 in der U6 Station Alserstraße, 20 Jahre alt, mit einem nicht messbaren Blutdruck, zu hohem Blutzucker, einem Cholesterinwert, der sich gewaschen hatte und Tränen in den Augen. Es traf mich wie eine Explosion, eine Supernova. Meine Haare stellten sich auf, ich zitterte am ganzen Leib, Schweiß tropfte von meiner geplagten Stirn, während mein Herz zu explodieren drohte und mein Atem stockte. Mein Leben tat sich vor mir auf wie ein Flussdelta, unzählige Arme boten mir einen Weg geringsten Widerstands an. Ich überlegte und überlegte, aber ich wollte mich nicht mehr treiben lassen von meinen Ängsten und Schwächen. Ich wollte flussaufwärts schwimmen. Wir haben nicht Angst vor unseren Schwächen, sondern davor, stark zu sein. Denn stark zu sein bedeutet, die Opferrolle aufzugeben und Verantwortung zu übernehmen.
Zwei Jahre später hatte ich ohne Medikamente und Operation 120 kg abgenommen. Ich war also ca. 90 kg schwer und mehr als nur fit bei einem Ruhepuls von 36. Doch die im wahrsten Sinne schweren Zeiten hatten Spuren in meinem Körper hinterlassen. Nicht nur die für alle sichtbaren Hautschürzen machten mir zu schaffen, ich hatte auch massive Schmerzen in meinem Knie, bedingt durch einen zerschlissenen Meniskus und eine ordentliche Abnützung.
Nach einer ersten Operation, in der mein Meniskus gänzlich entfernt wurde, ging es mir immer schlechter. Ich war ständig in Therapie, erlebte viele schmerzhafte Rückschläge und hatte am Ende mangels Bewegung wieder 20 kg mehr. Zwei Jahre war ich nun schon im Krankenstand und schwer depressiv. Eine Knieprothese stand im Raum. Mein Vertrauensarzt in Wien hielt davon wenig und stellte den Kontakt zu Dr. Dirisamer und Dr. Patsch in Linz her, in der Hoffnung, eine andere Lösung zu finden.
Die Lösung war eine Meniskustransplantation. Nach ein paar Monaten wurde ein passender Spendermeniskus gefunden und im Winter 2015 sollte ich mein Leben endlich zurückbekommen. Die Rehabilitation war anstrengend und sehr intensiv. Ich wurde belohnt mit den ersten schmerzlosen Schritten seit Jahren. Nach Jahren sah ich mich befähigt vorauszuplanen, ich hatte endlich Hoffnung. Um meine Ziele zu erreichen war aber noch ein weiterer Eingriff notwendig. Der geschädigte Knorpel musste noch durch eine Beinachsenkorrektur entlastet werden. Diese OP wurde wieder in Wien durchgeführt. Leider gab es dabei Komplikationen. Man sagte mir nach einer Notoperation, dass das Bein zwar noch dran ist, es aber keine Funktion mehr haben würde. Meine unerklärliche Antwort war: „Aber ich muss tanzen!“ Man wollte mir den Umgang mit dem Rollstuhl beibringen, aber ich war besessen von dem Gedanken, ich müsste mein Bein nur trainieren. Also versuchte ich ständig meine Zehen zu bewegen und zappelte entgegen den Anweisungen der Ärzte ständig mit beiden Beinen herum. Nach einigen schlaflosen Nächten passierte es: Mein Fuß bewegte sich. Mit dem zurückkehrenden Gefühl kam auch der unerträgliche Schmerz, der sich in mein Bein verbeißen sollte wie eine Bärenfalle. Heilende Nerven sind eine Erfahrung, die ich meinem schlimmsten Feind nicht wünschen würde.
Ich zweifelte täglich daran, dass ich jemals wieder ein normales Leben führen würde. Ich kämpfte ständig mit meiner Motivation, es weiter zu versuchen. Nach zwei Jahren kam der Tag, an dem ich endlich wieder ohne Einschränkung leben konnte. Ich musste feststellen, dass von dem Menschen der ich einmal war erstaunlich wenig übrig war. Mein Leben begann erst!
Der Alltag kam schnell, ich war arbeitslos und musste erst mal einen Job finden – nicht einfach nach knapp 5 Jahren Krankenstand. Irgendwie habe ich es geschafft. Ich fühlte mich wie immer fremd und war mit mir und meiner überschüssigen Haut beschäftigt. Sie musste weg. Zwei weitere Operationen später war mein Wunsch erfüllt und ich fühlte mich wie neu geboren.
Drei Tage nach meiner letzten OP brach Covid aus und ich musste das Krankenhaus verlassen. Eines Abends hatte ich zufällig einen Video-Vorschlag in meinem YouTube Feed. Es war eine Choreographie von einem der besten Balletttänzer der Welt. Ich war fassungslos, denn es war als würde ich meine Fantasie aus dem Spital wieder sehen. Ich saß alleine in meinem kalten WG-Zimmer und weinte Tränen der Klarheit. Ich will Ballett tanzen, ich muss tanzen, das bin ich, ich will, ich kann, ich werde…
Was wäre, wenn ich all die Disziplin, die ich über die Jahre aufgebaut habe und alle die Erfahrung mit hartem Training nehme und mein Leben dem Ballett widme? Was wäre, wenn ich 10 Stunden pro Woche tanze? Und nochmal 10 Stunden im Gym trainiere? Was wäre, wenn ich meine Geschichte erzähle? Wer oder was bin ich dann? Ich bin zum ersten Mal frei und ich selbst und wenn Du bis hier her gelesen hast und gerade mit dem Rücken zur Wand stehst, lass mich Dir sagen, nichts ist unmöglich!
Factbox
Text: Florian Dirisamer und Christian Patsch
Die Meniskustransplantation kommt für Patienten in Frage, bei denen Knieschmerzen, bedingt durch einen Meniskusverlust, vorliegen. Es wird dabei ein menschlicher Meniskus von einem Organspender verwendet, der arthroskopisch ins Gelenk eingebracht wird. Die Voraussetzung dafür ist ein stabiles Gelenk (Bänder müssen in Ordnung sein), ein gerades Bein und ein nicht zu weit fortgeschrittener Knorpelschaden. Oft müssen diese Voraussetzungen durch zusätzliche Eingriffe (z.B. Bandrekonstruktion, Achskorrektur, …) geschaffen werden. Diese Maßnahmen können – je nach Ausgangssituation – oft gleichzeitig oder auch gestaffelt durchgeführt werden.